Online-Minute: 1034

Das entspricht einer Lebenszeit von 0 Tagen, 17 Stunden und 14 Minuten

ls der Junge den Chat das erste Mal betrat, waren die Möglichkeiten des Internet noch begrenzt. Der verdunkelter Teil war noch nicht als jener sagenumwobene Ort bekannt, an dem man unbeobachtet mit virtueller Währung alles kaufen konnte, was nicht über die Ladentheke wandern dürfte. Virtuelle Währungen waren Zukunftsmusik. Wenn man etwas kaufte, hatte man davor das Geld dafür in der Hand. Das Internet wirkte wie ein unschuldigerer Ort. Gesetzlich war auch der Chat nichts Bedenkliches, obwohl er Dinge anbot, die dem Jungen verwerflich erschienen. Der Chat war nicht gefährlich, weil hier jemand zu Schaden kam – sondern weil er Abhängigkeit schuf.


Inzwischen kannte der Junge nicht nur die unschuldige Fassade des Chats, sondern auch die versteckten Räume. Diese waren nicht in den Auswahllisten der Startseite aufgeführt. Man konnte sie nur betreten, wenn man ihre Namen bereits kannte. Und wenn man angab alt genug zu sein – das war nicht schwer: Klick.

Damals konnten nur die Administratoren Räume anlegen. Die Hintertür zu den Chaträumen, die sich offen der virtuellen Erotik verschrieben hatten, war damit zwar versteckt, aber ein offizieller Teil des Chats. Und statt ein kleines, schmuddeliges Eck zu sein, waren diese Räume nicht weniger prachtvoll oder gemütlich als ihre sittsamen Geschwister. Das neutrale Grau, das sie bis heute schmückt, war mit einem eigenen knuffigen Hintergrundbild versehen. Sobald einer dieser Räume überfüllt war – was ständig vorkam – wurde automatisch ein neuer eröffnet. Es war keine Randerscheinung sich der Lust hinzugeben. Die Räume waren kein Auffangbecken für Verirrte. Sie waren die ehrlichere Hälfte des Chats. Wenn man bei anonymen Maßen überhaupt von Ehrlichkeit sprechen wollte.

Denn obwohl der Junge mit einigen Besuchern regelmäßig schrieb, kannte er keinen einzigen von ihnen. Vielleicht war es gar nicht möglich, Individuen kennen zu lernen, – weil es keine gab? Niemand wollte offenbaren, wer er war – erst recht nicht in den unsichtbaren Räumen. Die einheitliche Einsamkeit war das verbindende Element aller Chatter. Das würde dem Jungen ein paar Jahre später bewusst werden, weil statt Geburtstagskarten Grüße auf digitalen Pinwänden geschrieben wurden. Die Einsamkeit war die unrühmliche Uniform, die mit dem vermeintlichen Geschenk der Anonymität angelegt wurde.

Auf der Suche nach Persönlichkeiten fühlte man sich wie beim Wandeln durch ein Wachsfigurenkabinett: Der vergebliche Versuch in leblosen Abbildern etwas Menschliches zu erkennen; die Interaktion mit nachgeahmtem Leben. Denn wenn der Mensch nur das zu Schau stellt, was er zeigen will, wirkt er niemals echt. Das was uns ausmacht, sind die Eigenschaften, Macken und Gefühle die wir nicht zeigen wollen, von denen wir vielleicht nicht einmal wissen.

Deswegen ging es auch um Lust, nicht um Zärtlichkeit oder Gefühle. Intimität entsteht im wahren Leben deswegen so schwer, weil wir Angst haben verurteilt zu werden, für die Dinge die wir preisgeben. Und wer seine sexuellen Fantasien mit jemand teilt, muss unweigerlich mehr von sich zeigen, als er – oder sie – kontrollieren kann. Dieser bewusste Verlust von Kontrolle, der Rausch von dem man langsam aber sicher nicht genug bekommt, ist Teil jeder Sucht. Diese offen legen zu müssen um jemand nahe zu kommen, ist ein sehr persönlicher Moment. Doch im Chat konnte man den gemeinsamen Rausch finden, ohne dabei erkannt zu werden.

Deswegen war die Anonymität so gefährlich: sie verhinderte eine wirkliche Verbindung zwischen zwei Menschen; sie erzeugte Einsamkeit. Kaum ein Gespräch konnte die Intimität entwickeln, um den dicken, gläsernen Panzer des Monitors zu sprengen. Letztlich saß man doch alleine im blauen Licht. Und selten können Worte einen so berühren, dass sie Körperkontakt ersetzen. Finger, die über eine Tastatur streifen, finden keinen Menschen – egal wie zärtlich sie es versuchen.


Doch auch das musste der Junge erst noch schmerzlich am eigenen Leib erfahren.

Nächste Postkarte