
Online-Minute: 5.301
Das entspricht einer Lebenszeit von 3 Tagen, 16 Stunden und 21 Minuten
as es bedeutete, wollte sich der Junge nicht klarmachen. Es ging nicht um Fakten, sondern um Fantasien. Sich auf diese einzulassen klang nach unzähligen, aufregenden Möglichkeiten die nicht so beschränkt waren, wie die eintönige Wahrheit des Alltags; die sich keiner strengen Moral unterwerfen mussten. Wenn jeder sein konnte, wer er wollte, warum sollte man dann nicht auch tun, worauf man Lust hatte?
Zumindest in den gemeinsamen Fantasien, die im Chat geteilt wurden; die das Potential des Chats waren. Was sollte schon passieren, wenn man es zumindest einmal probierte. Was war schon dabei?
„Was würdest du tun, wenn du bei mir wärst?“ Ihre Frage war wie ein magischer Satz; wie das Schlüsselloch der Tür zu einer anderen, dem Jungen noch unbekannten Welt. Ihre Frage war eigentlich ein Angebot, das sie geschickt unterbreitete. Mit wenigen Worten hatte sie zuvor das verheißungsvolle Bild in den Kopf des Jungen gezaubert, wie sie aus der Dusche gestiegen sein musste – ihre weichen Kurven in ein Handtuch gehüllt, schillernde Perlen kleiner Wassertropfen auf der glatten Haut. Der Junge warf einen Blick aus dem Fenster, vor dem der Wind an den letzten Blättern karger Bäume zehrte. Wer sehnte sich in dieser Jahreszeit nicht nach ein wenig Nähe und Wärme? Er blinzelte in die Sonne, die alles, das sie erblickte, mit einem hauchfeinen Überzug aus Bronze versah. Die Erziehung des Jungen sprach deutlich dagegen ihr unsittliches Angebot anzunehmen. Also nicht erwischen lassen! Mit einem schnellen Handgriff hatte der Junge die Jalousien gelockert, sie nach unten rauschen und dann – kurz bevor sie auf das Fensterbrett knallten – leise die letzten verräterischen Sichtschlitze schließen lassen. Er spürte sein aufgeregtes Herz Blut durch seinen Körper jagen, der langsam in das kalte Licht des Monitors sank – in die Arme einer virtuellen Geliebten. Was war schon dabei?
Vielleicht war der Junge damals nicht in der Lage, zu verstehen was es bedeutet. Süchtige machen vortreffliche Werbung. Sie erzählen mit einer solchen Überzeugung vom Rausch, dass unzweifelhaft klar wird: es gibt nichts Besseres (für sie). Gleichzeitig verschweigen sie sehr gekonnt die versteckten Kosten. Denn sie üben die Lüge, dass ihnen ihre Sucht nicht schadet tagtäglich ein. Jedes Mal wenn sie Blüten und Tabak mischen, wenn sie den 20-Sekunden-Timer nicht abwarten wollen und die nächste Folge ihrer Lieblingsserie sofort starten, oder wenn sie morgens verkatert in den Spiegel sehen. Was ist schon dabei?
Spätestens als seine Jalousie tagelang keinen Spalt für das Sonnenlicht mehr öffnete hätte der Junge es verstehen können – wenn er gewollt hätte. Mit dem ersten Blick hinter die unschuldige Fassade des Chats hatte sich alles verändert. Es war als hätte der Chat sein wahres Gesicht offenbart, als hätte er den einzigen Antrieb aller User preisgegeben: Lust.
Von diesem Moment an begann der Junge sie überall zu sehen. Er las sie in jedem Nick, mochte er auf den ersten Blick noch so unschuldig wirken. In jeder Antwort und in jedem Bild steckte eine Aufforderung. Wer durch einen einsamen Klick in den Chat gefunden hatte, schien eine stillschweigende Einverständniserklärung abgegeben zu haben: zur Befriedigung der Lust hier zu sein; sich den gemeinsames Fantasien hingeben zu wollen. Zu jeder Tages- und Nachtzeit war jemand hier, um sich anonym seinen Trieben hinzugeben. Kein Anlass war heilig genug, als dass es nicht erregend war, ihn durch einen heißen Chat zu entweihen. Im Gegenteil: es wurde zu einer Möglichkeit den eng abgesteckten Rahmen zu entfliehen und sich von drückenden Erwartungen zu lösen. Egal ob Weihnachten, Geburtstage und Silvester – man verbrachte seine Zeit nicht mit der Familie oder unter Freunden, sondern hier wo man seine Lust ungeniert mit Fremden ausleben konnte.
Was war schon dabei?
