Wenn ich es zusammenfassen müsste, würde ich sagen: der Junge erzählt in seinen Postkarten von Cybersex, Sucht und Einsamkeit.
Aber ich weiß, dass das den kurzen Texten nicht gerecht wird. Und vermutlich würde die Beschreibung dem Jungen nicht gefallen. Sachlich gesehen sind die Postkarten vielleicht eine Art Medienkonsumkritik oder der Erfahrungsbericht eines jungen Mannes, der hart mit seiner Umwelt, sich selbst und seinem Handeln ins Gericht geht und dabei früher als andere Gefahren erkennt. Doch wenn sie nur das wären, hätte ich die Postkarten nicht öffentlich gemacht – obwohl er mich darum gebeten hat. Der entscheidende Punkt es doch zu tun, war dass mich etwas in ihnen berührt und gefesselt hat. Wenn ich sie lese, haben die Texte etwas sehr persönliches, manchmal poetisches. Mit jeder Postkarte fügt sich neben einem Teil der Geschichte auch ein Stück zum Bild des Jungen.
Denn – das sollte ich vielleicht erklären – ich weiß selbst nicht viel mehr vom Jungen als Ihr, liebe Mitlesende. Als der Junge vor gut einem Jahr vor meiner Haustüre stand, erkannte ich ihn nicht einmal. Unsere gemeinsame Schulzeit war schließlich schon eine Weile her. Und wir waren damals nicht mal in der selben Klasse. Ich glaube, wir arbeiteten gemeinsam an der Schülerzeitung. Er schrieb einige der Texte über Lehrer und Klassenkameraden, ich war für das Layout verantwortlich. Vielleicht wusste er von meinem Praktikum bei der Druckerei, das daraus entstanden war. Vielleicht war ich inzwischen die letzte aus unserem Jahrgang, die nicht weggezogen war. Jedenfalls bat er mich, etwas für ihn zu veröffentlichen. Er wollte nicht viel erklären, sagte aber dass es ihm sehr wichtig sei. Ehrlich gesagt, nickte ich das Ganze nur ab, um ihn loszuwerden – er war mir ein wenig unheimlich.
Als die erste Postkarte bei mir ankam, wusste ich nichts damit anzufangen. Dennoch legte ich sie nach dem Lesen in eine meiner Schreibtischschubladen. Die zweite und dritte kamen jeweils zwei Wochen später, meist direkt zum Beginn der Woche. Dann erwischte ich mich dabei, die alten Postkarten erneut zu lesen, während ich ungeduldig auf den übernächsten Montag wartete. Der Gang zum Briefkasten war plötzlich nicht mehr ganz so lästig, wenn zwischen Werbung und Rechnungen eine Postkarte vom Jungen steckte. Irgendetwas sprachen die Texte in mir an, das ich nicht wirklich benennen konnte. Als ich sie Freunden zeigte, ging es ihnen ähnlich und ich begann die Postkarten abzufotografieren. Schließlich wollte ich nicht jeden Montag mehrere Häuser abklappern. Zu guter Letzt war es nur eine Frage des Komforts diesen Blog zu erstellen und die bisherigen Postkarten zu veröffentlichen. Immerhin hatte sich der Junge genau das gewünscht.
Inzwischen poste ich die Postkarten regelmäßig, sobald sie eintreffen hier.
