Online-Minute: 176

Das entspricht einer Lebenzeit von 0 Tagen, 2 Stunden und 16 Minuten

ie ersten Gespräche waren unverfänglich. Sie drehten sich um Fakten. Unsicher hangelte man sich von einer Floskel zur nächsten, in der Hoffnung eine Information zu erhalten, die dem Gespräch einen Sinn gab; die es abhob von belanglosem Geplänkel und den ziellosen Frage-Antwort-Spielchen.

Später würden diese ersten Gespräche im Chat den Jungen an die Treffen mit alten Schulfreunden erinnern. Wenn man nicht viel mehr von ihnen wissen will, als wie man im Vergleich im Leben abschneidet. Es waren im Grunde genommen Monologe. So wie die Versuche von betrunkenen Männern, die in einer Bar versuchten sich interessiert zu zeigen an einer Frau, die nichts von ihnen wissen will. Der Körper der Frau – an dem die Männer eigentlich interessiert waren – zeigte deren Abweisung stets deutlich. Der Junge erkannte sie in Sekunden während er auf sein Bier wartete. Denn die Abweisung war offen zur Schau getragen und nicht schwer zu erkennen; die Männer wollten sie nicht sehen. Und der Junge hatte mehr als nur einmal beobachtet, wie diese Ignoranz zum gewünschten Erfolg geführt hatte. Zu dem was die Männer als einen Erfolg definierten: die Befriedigung ihrer Lust.

Zu Anfang seiner Zeit im Chat (lange bevor er das aggressive Flirten von Männern wahrgenommen hatte) war dem Jungen nicht klar, dass der Chat die selben Erfolge versprach und ermöglichte. Noch glaubte der Junge, es ginge darum jemand anderen kennen lernen zu können; zu erfahren wer das Gegenüber war und sich auf unschuldige Art und Weise die Zeit zu vertreiben.

Der Chat versuchte User anhand von gemeinsamen Interessen zusammen zu führen. Zumindest vermittelte er den Anschein. Die Chaträume trugen Städtenamen, Musikgenres oder Hobbiearten zur Schau, als seien es Clubs. Die Hintergründe der Chatfenster waren farbenfroh und mit verspielten Bildern versehen – eine fast kindisch wirkende Fassade Doch egal, ob man glaubte sich aufgrund von Gemeinsamkeiten oder unterschiedlicher Ansichten mehr zu sagen zu haben, man musste die ersten Gespräche doch irgendwie mit dem Kennenlernen beginnen. Und bei dem Versuch geriet man schnell in eine Flut aus Fakten, die dem Jungen zu wider war. In welcher Stadt man wohnte, welche Schulart man besuchte oder wieviele Geschwister man hatte, machte einen nicht interessant. Es machte einen nicht mal besonders – lediglich die Personengruppe, der man angehörte, wurde kleiner. Von „Jedermann“ zu „Gewöhnlich“ über „Selten“ bis hin zu dem einen Alleinstellungsmerkmal, das man zu besitzen hoffte, – das man in den meisten Gesprächen allerdings vergeblich suchte. Nicht nur im Chat.

 

Vielleicht hofften die Betrunkenen in den Bars und Clubs ebenfalls es zu finden. Oder vielleicht hatten sie es lange gesucht, bis sie enttäuscht aufgegeben und entschlossen hatten, sich lieber der Lust hin zu geben. Vielleicht hörten die Frauen, deren Körper die Avancen der Männer so deutlich ablehnten, ihnen deswegen zu, weil sie hofften, ein solches Alleinstellungsmerkmal zu erkennen. Vielleicht taten sie es sogar manchmal und es war der Junge, der inzwischen unfähig war es zu sehen. Denn die ersten Gespräche im Chat, der Lügen verlangte, drehten sich nicht lange um Fakten. Und sie waren auch nur anfangs von der Suche nach einem Alleinstellungsmerkmal – sei es das eigene oder das des Gegenübers – motiviert.

Ein einziger Satz hatte die kindlichen Kulissen ins Wanken gebracht, hatte entlarvt, worum es im Chat eigentlich ging. „Was würdest du tun, wenn du jetzt bei mir wärst?“ Hatte sie dem Jungen geschrieben, nachdem sie sich kurz verabschiedet hatte, um unter die Dusche zu springen. „Was würdest du tun?“

 

 

Es ging nicht um Fakten, sondern um Fantasien.