Online-Minute: 2

Das entspricht einer Lebenszeit von 0 Tage, 0 Stunden und 2 Minuten.

ine Freundin hatte den Chat empfohlen. Ein unbedachter, einsamer Klick hatte den Jungen hierher geführt. Ohne zu ahnen, dass mit der Anmeldung im Chat die Zeit der Unschuld dem Untergang geweiht war. Denn die Wahrheit hatte hier keinen Raum. Der Chat machte keinen Hehl aus seiner Gesinnung. Die einzige Bedingung, um eintreten zu können, – die Anmeldung – forderte eine Lüge. Während dem Jungen bei Alter und Geschlecht noch beide Optionen gelassen wurden (Wahrheit und Lüge), erschien bei der Wahl des Namens eine Sprechblase über dem quietschgelben Maskottchen. Es ermahnte nicht den echten Namen zu benutzten – zur Wahrung der Anonymität und zum Schutz der Nutzerdaten. Es war das exakte Gegenteil der Nachricht, die der Junge einige Jahre später bei seiner Anmeldung auf der großen, blauen Social-Media- Plattform erhalten sollte. Im Chat sollte man vorgeben jemand anders zu sein. Der Junge hatte lange darüber nachgedacht. Auf eine Art waren Namen für ihn stets verlogen.
Unsere Eltern geben uns unsere Namen bevor sie uns kennen, bevor wir eine Persönlichkeit oder ein Selbstbewusstsein entwickeln können. 

Oft haben sie unseren Namen schon im Kopf, lange bevor sie die zweite Hälfte des DNA-Strangs, der wir einmal sein werden, getroffen haben. Was sie uns also zurufen und es einen Namen nennen, sind die konzentrierten Erwartungen die sie an uns haben. Und doch scheinen Namen einen großen Einfluss auf und Macht über uns zu haben. Vielleicht weil wir uns anhand der Erwartungen entwickeln, die uns unweigerlich begleiten. Wir werden zu unseren Namen, zu diesen Worten die so viel älter als wir selbst sind – und vielleicht deswegen auch so viel mächtiger. 

Die Erwartungen an den Jungen waren noch älter. Sie entsprangen einer Jahrtausende alten Schrift, die – obwohl sie voller bildhaften Gleichnissen war – zu selten interpretiert oder gar hinterfragt wurde. Die Worte dieser Schrift (nicht ihr Sinn oder ihre Bedeutung) waren verantwortlich dafür was dem Jungen verboten und erlaubt worden war. Selbst sein Name war der Schrift entnommen. Nicht dass das einen Unterschied machte. Alle Namen waren verlogen. Und deswegen war es letztlich auch egal für welchen der Junge sich entschied.

Im Chat ging es nur um Wörter. Und sie waren allesamt so mächtig wie es die Namen waren. Die Wahrheit passt sich an die Mittel an, die ihr zu Verfügung stehen. Wenn man von seinem Gegenüber nur Worte hat, dann hat der Autor dieser Worte die Macht sich selbst zu formen. Das was man schrieb, definierte wer man war. Das gefiel dem Jungen. Er war gut darin mit präzisen Worten ein Bild von sich zu formen, dass ihm zusagte. Es war nicht schwierig jemand anders zu sein. Tatsächlich war es viel, viel einfacher als ehrlich zu sein – und spannender dazu. Mit einem Klick konnte man die Welt (beschränkt auf die Ausmaße eines Chatfensters) mit den Augen einer Frau sehen. Und wenn der Chat schon wollte, dass man nicht man selbst war, warum sollte man dann nicht auch jemand sein, der man sonst nicht sein konnte; tun, was man sonst nicht tun dürfte?